Aktuelles - 125. Geburtstag am 10. August 2003

Vor 125 Jahren geboren:
Alfred Döblin, der "Kirchenvater" der neuen deutschen Literatur

Vor 125 Jahren - am 10. August 1878 - wurde in der pommerschen Hafenstadt Stettin (heute Szczecin, Polen) der Arzt und Dichter Alfred Döblin geboren. Sein fast 80 Jahre währendes Leben ist gezeichnet von persönlichen und epochalen Katastrophen, von ideologischen und ästhetischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Er hinterließ ein Werk von größter gedanklicher und stilistischer Bandbreite und wurde durch seine innovativen Erzähltechniken zu einer Leitfigur der literarischen Moderne. Döblins Einfluss auf nachfolgende Schriftstellergenerationen hält bis heute an. Zur sogenannten Döblin-Schule zählen so bedeutende Autoren wie Wolfgang Koeppen, Uwe Johnson und Arno Schmidt, der Döblin den "'Kirchenvater' unserer neuen deutschen Literatur" nannte. Günter Grass bezeichnete ihn 1967 als seinen "Lehrer", dessen Prosa er viel verdanke. Ihm sei als einem der "Nachfolger und Schüler" Döblins "ein Stück Erbschaft als Ruhm" zugefallen, "den in kleiner Münze zurückzuzahlen ich mich heute bemühe." Dies tat er dann u.a. durch die Stiftung des inzwischen höchst renommierten Alfred Döblin-Preises. Zu den Autoren der jüngeren Generation, die sich zu Döblin als ihrem Lehrmeister bekennen und damit zum Fortleben des "Döblinismus" beitragen, gehört Ingo Schulze: "Inzwischen darf ich sagen, dass ich nicht nur die meisten seiner Bücher liebe, sondern auch, dass Alfred Döblin jener Schriftsteller ist, dem ich mich am meisten verpflichtet fühle und dessen Schreibansatz mir aktuell und praktikabel erscheint."

Mit Berlin Alexanderplatz schuf Döblin einen Großstadtroman von weltliterarischem Rang, der nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt. Bis heute wird der Romantitel mit Döblins Namen identifikatorisch verknüpft - zum Leidwesen des Autors, der sich in späten Jahren oft über diese selektive Wahrnehmung seines Schaffens beklagte. In den letzten Jahrzehnten gab es erfolgreiche Bemühungen, einer solchen Fixierung entgegenzuwirken. Die Germanistik näherte sich schrittweise den schier überwältigenden Dimensionen seines Œuvres und begann mit der Ausleuchtung auch der bislang vernachlässigten Bereiche. Wesentliche Impulse hat die Forschung seit rund 20 Jahren von der Internationalen Alfred Döblin-Gesellschaft (IADG) empfangen, die alle zwei Jahre - alternierend im In- und Ausland - Kolloquien ausrichtet und die Referate im Jahrbuch für Internationale Germanistik im Verlag Peter Lang publiziert. Vom 2. bis 4. Oktober 2003 findet in Straßburg das XIV. Internationale Alfred Döblin-Kolloquium statt, dessen Rahmenthema lautet: Der Grenzgänger Alfred Döblin - Biographie und Werk 1940-1957.

Zu den Anliegen der IADG gehört auch die Unterstützung der Döblin-Werkausgabe. So ist inzwischen ein Großteil seiner literarischen Arbeiten durch kritische Erst- oder Neueditionen erschlossen und damit eine solide Basis für die weitere Beschäftigung mit Döblins Texten geschaffen worden. Dies ist vor allem das Verdienst des kürzlich verstorbenen kanadischen Germanisten Anthony W. Riley, der seit 1978 in Verbindung mit den Söhnen Alfred Döblins die Ausgewählten Werke in Einzelbänden herausgab und damit die 1960 von Walter Muschg begründete Werkausgabe im Walter Verlag fortführte. Als junger Literaturwissenschaftler hatte er zunächst vor allem über Thomas Mann und Elisabeth Langgässer geforscht. Bald jedoch stieß er auf Alfred Döblin, der ihn so faszinierte, dass er ihm sein Lebenswerk widmete. Er übernahm vor 25 Jahren die ins Stocken geratene Werkausgabe Döblin, die heute 37 Bände umfasst und ihrem baldigen Abschluss entgegengeht. A.W. Riley selber edierte die weniger bekannten Frühwerke sowie die lange vernachlässigten Spätwerke, die seit ihrem Erstdruck in den 1940er Jahren vergriffen waren.

Die Fortführung seines Lebenswerkes liegt nun in den Händen von Christina Althen, die 2001 die kritische Neuedition Die Ermordung einer Butterblume. Sämtliche Erzählungen herausgegeben hat. Als nächstes erscheint der von A.W. Riley begonnene Sammelband mit Kleinen Schriften (IV) Alfred Döblins aus der Zeit des Exils bis zu seinem Tode; neben bislang unpublizierten Texten wird der Band auch die 1946 unter dem Pseudonym Hans Fiedeler veröffentlichte Schrift Der Nürnberger Lehrprozeß enthalten.

Das Interesse an Döblins Werk hat inzwischen deutlich zugenommen, wie sich nicht nur an der Sekundärliteratur ablesen lässt, sondern auch an der zunehmenden Verbreitung des Werkes an Universitäten und Schulen. Auf den Lehrplänen finden sich neben Berlin Alexanderplatz auch seine historischen Romane und einige seiner Erzählungen, insbesondere das frühe Meisterwerk Die Ermordung einer Butterblume, das zu den Pionierleistungen des Expressionismus zählt. Popularität erlangte, nicht zuletzt dank der einfühlsamen Fernsehverfilmung durch Axel Corti, die 1924 veröffentlichte psychologische Studie über Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord. Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Czurda inspirierte dieser auf einem authentischen Kriminalfall beruhende Text zu ihrem Roman Die Giftmörderinnen (1991). Döblins monumentales Exilwerk November 1918 - Bertolt Brecht nannte es "ein Nachschlagewerk für alle Schreibenden" - hat mehrere Autoren angeregt: So schrieb Holger Teschke 1987 ein Theaterstück nach Motiven von Döblins Roman unter dem Titel Berliner November, und Lothar Trolle verfasste das Hörspiel Novemberszenen - Der Herbst der R.L. [Rosa Luxemburg], 1999 produziert vom DLF/SWR. Im gleichen Jahr erlebte die von Oliver Reese geschaffene Bühnenfassung von Berlin Alexanderplatz im Berliner Maxim Gorki-Theater ihre Premiere. Wenngleich die Kritik eher reserviert auf die Inszenierung mit Ben Becker in der Hauptrolle reagierte, so zeigte sich das Publikum begeistert.

So lässt sich Döblins poetologisches Diktum "Literatur zeugt Literatur" auch auf die Wirkungsgeschichte seiner eigenen Werke beziehen, deren schöpferisches Potential ungebrochen scheint. Inzwischen ist Döblin multimedial präsent, er wird in Fernseh- und Rundfunkfeatures porträtiert, und ein Teil seiner Werke lässt sich auf Hörkassetten rezipieren. Die gewachsene Wertschätzung des Autors zeigt sich auch an Zeichen, die in jüngster Zeit im öffentlichen Raum gesetzt wurden. Es wurden nicht nur in verschiedenen Städten Straßen und Plätze nach Döblin benannt, sondern auch an Orten seines Lebens und Wirkens Gedenktafeln angebracht. Den Schwerpunkt bildet Berlin, die Stadt, in der Döblin den größten Teil seines Lebens verbrachte (1888-1933) und die er als "Mutterboden" seiner Kreativiät bezeichnet hatte. Hatte man noch in den achtziger Jahren eine eher schäbige Ecke Berlins in der Nähe der Mauer mit dem Namen Alfred-Döblin-Platz versehen (in der Nähe der U-Bahn-Station Heinrich-Heine-Straße), so scheinen die Berliner in den neunziger Jahren ihren großen Sohn erst wirklich wiederentdeckt zu haben: An der Karl-Marx-Allee, der früheren Frankfurter Allee, wo Döblin viele Jahre seine Praxis hatte und mit seiner Familie lebte, erinnert nun eine kleine Büste an ihn. Sie schaut auf einen gegenüberliegenden Kino-Komplex, der auf den Trümmern des Hauses Nr. 340 gebaut wurde - eine passende Geste für den Erfinder des literarischen "Kinostils".

Eine vom Senat bereits bewilligte Summe für ein Denkmal am Alexanderplatz fiel der Sparpolitik zum Opfer. Seit dem Jahr 2000 schmückt nun ein auf der Welt einmaliges Denkmal den Alex: Tafeln mit riesigen Buchstaben im Siebdruckverfahren wurden an dem 220 m langen, zehngeschossigen Gebäude Alexanderplatz 6 angebracht. Zusammengesetzt ergeben sie ein Zitat aus Berlin Alexanderplatz:

Die Elektrischen fahren über den Platz, die Alexanderstraße herauf durch die Münzstraße zum Rosenthaler Platz… Wiedersehen auf dem Alex, Hundekälte. Nächstes Jahr, 1929, wird es noch kälter.

Im Mai diesen Jahres wurde an der einzigen Wohnung Döblins, die den Krieg überdauert hat, eine Gedenktafel angebracht: In dem Haus am Kaiserdamm 28 hatte Döblin seit Januar 1931 bis zur Emigration gelebt und praktiziert. Die Initiative ergriffen die heutigen Hauseigentümer, das Ehepaar Trautner aus Berlin. Gerda Trautner fand ihre Anschrift unter dem Namen Döblin im Faksimile des Adressbuches von Paul Hindemith und wandte sich an die Behörden und Claude Döblin als Nachlassverwalter. Die Verlegerin Maria Müller-Sommer unterstützte das Projekt, wie sie zuvor schon zahlreiche Gedenkveranstaltungen an Alfred Döblin in Berlin anregte und förderte. Inzwischen gibt es auch in Döblins Geburtsstadt Stettin eine Initiative, das Gedächtnis an den berühmten Sohn wachzuhalten. Da jedoch das Geburtshaus am Bollwerk nicht mehr existiert, sucht man nach einem anderen Ort des Gedenkens.

Im Frühjahr 2001 nahmen zahlreiche Berliner und Berlin-Besucher die Gelegenheit wahr, sich in einer von der IADG organisierten Ausstellung im Literaturhaus an der Fasanenstraße zu informieren über Döblins Beziehungen zur künstlerischen Avantgarde in Berlin und seine Kontakte zur Literatur-, Theater-, Film-, Musik- und Kunstszene im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts. Die Ausstellung war anschließend für zwei Monate im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg zu sehen.

In der jüngsten Zeit findet auch Döblins Familie zunehmendes Interesse in der Öffentlichkeit. Am 16. Mai 2003 fand in Frankfurt am Main erstmals eine persönliche Begegnung statt zwischen Claude Döblin (86), dem zweitjüngsten Sohn von Alfred Döblin, und Marcel Reich-Ranicki (83). Eingeladen zu der Begegnung hatte die IADG-Vizepräsidentin Christina Althen. Claude Döblin lebt seit der Flucht seiner Eltern nach Amerika 1940 in Südfrankreich. Als Vertreter der Erbengemeinschaft kümmert er sich seit dem Tod der Eltern im Jahr 1957 um den Nachlass seines Vaters. Sein Einsatz für die Verbreitung des Werkes ist außergewöhnlich und bis heute unvermindert.

Reich-Ranicki fragte Döblin nach seiner Lebensgeschichte. Klaus Döblin hatte 1933 sein ‚Einjähriges' in Berlin gemacht, als sein Vater schon geflüchtet war, und folgte dann der Familie nach Paris, wo er Schaufensterdekorateur wurde. Er diente drei Jahre als Soldat in der französischen Infanterie und wurde mit der Kriegsmedaille mit Palmen ausgezeichnet. Die gemeinsame Flucht mit den Eltern und dem jüngeren Bruder Stefan nach Amerika verpasste er, da er erst am 2. August 1940 aus dem Militär entlassen wurde, das Visum der Eltern jedoch drei Tage zuvor abgelaufen war. Nach der Besetzung Frankreichs stand Döblins Name weit vorne in einer Liste von Flüchtlingen, deren Auslieferung Hitlerdeutschland in den Abmachungen des Waffenstillstands verlangte. Claude Döblin blieb allein zurück, von der französischen Miliz und der Gestapo gejagt und zwei Mal von der Miliz gefasst. Er fand eine Stellung als Sekretär-Archivar bei einer jüdischen Hilfsorganisation und gründete nach dem Krieg ein Dekorateurgeschäft in Nizza.

Gesprächsthema war auch das mathematische Genie des zweiten Sohnes Wolfgang. Im Gegensatz zum Vater, der wegen Mathematik das Abitur wiederholen musste, trat Wolfgang Döblins Begabung früh zutage. 1938 wurde er an der Sorbonne mit höchster Auszeichnung promoviert. Aus Furcht vor deutscher Gefangenschaft erschoss er sich 1940; zuvor hatte er ein "pli cacheté" an die französische Akademie der Wissenschaften gesandt, das mit Erlaubnis der Brüder im Jahr 2000 geöffnet wurde. Seine darin enthaltene Studie Sur l'equation de Komogoroff wurde in den letzten drei Jahren in Frankreich sehr bekannt und führte zu zahlreichen postumen Ehrungen. In seiner Geburtsstadt Berlin, wo Wolfgang Döblin 18 Jahre lebte und zur Schule ging, wurde bislang kaum Notiz von ihm als einem der größten Mathematiker des 20. Jahrhunderts genommen.

Gabriele Sander / Christina Althen